Unterhaching: Zweite Chance statt Müllcontainer: Sie retten Lebensmittel vor dem Wegwerfen

2023-03-08 14:16:00 By : Mr. Mike M

Wenn die Supermärkte in und um Unterhaching ihre Waren aussortieren, schlägt die Stunde der Lebensmittelretter. Sie sammeln Produkte ein und bringen sie in ihre Zentrale, dort haben wir sie besucht. 

Unterhaching – Und wieder hält ein Auto in der kleinen Sackgasse in Unterhaching. Der Kofferraum: Randvoll gepackt mit einer Kiste Bananen, Brot, diversen Gemüsesorten und kleine Blumensträuße liegen obenauf. „Das kommt alles von Aldi, heute schon die sechste Fuhre“, sagt Sabine Spieler. Bei ihr, im Turnerweg 1, laufen die Fäden der Lebensmittelrettung zusammen, emsige Helferinnen in grünen Schürzen laden rasch den Wagen aus. Denn schon rollt der nächste an – ebenfalls vollgepackt mit allerlei Essbarem. „Es ist schön, wenn es wuselt“, strahlt Sabine Spieler, „und bei uns wuselt es immer.“

Die 34-Jährige ist Chefin des „Vereins für Lebensmittelrettung und gegen Ressourcenverschwendung“. Ein Gegenstück zur Wegwerfgesellschaft: Was anderswo ein Fall für die Entsorgung wäre, landet hier in einer geräumigen Holzhütte statt im Müll. Ehrenamtliche Fahrer-Teams klappern täglich kooperierende Supermärkte ab und nehmen dort Ware, die nicht mehr verkauft oder von den Tafeln benötigt wird, mit. In Unterhaching wiederum finden sich dafür neue Abnehmer: unter den über 200 Vereinsmitgliedern sowie Hilfsorganisationen, die mit den Lebensmitteln bedürftige Menschen oder Tierheime unterstützen.

Ursprünglich kommt Sabine Spieler aus einem 1500-Seelen-Dorf vom Bodensee und hat sich dort schon um Resteverwertung gekümmert, „das reichte für ein paar Hasen“. Als sie fürs Studium nach München zog, erlitt sie „einen Kulturschock“. Mit einer Freundin wollte sie in Supermärkten eigentlich bloß ausrangierte Ware für eine Tierauffangstation sammeln, „und es hat mich unglaublich geschockt, welche enormen Mengen Tag für Tag weggeschmissen werden“. So entstand die Idee für den „Verein für Lebensmittelrettung und gegen Ressourcenverschwendung“ – der ist seit 2020 als gemeinnützig anerkannt und mittlerweile bestens vernetzt.

Filialen von Aldi, Edeka, Netto und Norma stehen auf der Abhol-Liste des Vereins, aber auch eine Esso-Tankstelle oder die Kantine der Montessori-Schule in Neubiberg. Und es werden immer mehr, denn unter Filialleitern spricht sich der Nutzwert herum: In den Supermärkten bleibt weniger oder gar kein Müll übrig, vom Nicht-Wegwerfen wiederum profitiert die Gesellschaft an sich.

Über eine WhatsApp-Gruppe sind die über 200 Vereinsmitglieder organisiert. Rund 30 Fahrer zählt das Team, dazu täglich einen festen Bestand an Helfern, die beim Ausladen und Einräumen zupacken. „Jeden Tag um 10.30 Uhr beginnt das große Umverteilen, abends ist alles weg“, berichtet die Vereinschefin. Falls abends doch noch mal eine Kiste Semmeln oder ein Sack Äpfel ungenutzt herumstehen, schreibt Spieler kurz eine Mitteilung per WhatsApp: Irgendjemand findet sich dann schon.

Das Spektrum der Mitglieder – vorwiegend aus dem Raum Unterhaching und Ottobrunn, aber auch aus den Nachbarlandkreisen Miesbach und Ebersberg – ist breit gestreut. Viele Rentner sind dabei, Leute mit etwas kleinerem Geldbeutel oder solche, die sich einfach gegen die Wegwerfgesellschaft stemmen wollen. „Wir versuchen, die geretteten Lebensmittel zu 100 Prozent zu verwenden“, erzählt Vereinsvorsitzende. Was nicht unmittelbar genutzt werden kann, wird eingekocht, selbst Bioabfall bleibt nie übrig: „Alles wird gesondert ausgeschnitten. Das Gute bekommt ein Hühnerhof, den Rest verwenden wir für Dünger.“

Das mit dem Dünger ist eine ganz spezielle Sache, wie drei der Stamm-Helferinnen – Theresia, Ulli und Annette – verraten: Sie machen aus Bioabfall Bokashi. Bei dieser aus Japan stammenden Methode werden Küchenabfälle mit einer Nährmittellösung aus sogenannten „effektiven Mikroorganismen“ fermentiert. Dieser Flüssigdünger „entsteht relativ schnell und belebt den Boden, er ist dann voller Regenwürmer“, berichten die drei Damen.

Apropos Getier: Ihr dunkelblauer Kastenwagen sei „ein fahrendes Biotop“, erzählt Sabine Spieler lachend und zeigt in die Ritzen, wo zwischen Salatresten und Brotkrümeln auch mal eine Schnecke hervorkrabbelt. „Da läuft halt auch mal eine Tüte Milch aus oder eine Mehltüte platzt.“

Ihr Mann Peter Brecht (41) hat, als gelernter Kfz-Mechaniker, den Wagen mit Lkw-Federn umgerüstet, „denn allein eine Kiste Bananen wiegt 30 Kilo, und wird transportieren tonnenweise Lebensmittel“. Trotzdem sei der Verschleiß enorm, sagt die 34-Jährige: „Mit den 12,50 Euro Monatsbeitrag für die Vereinsmitgliedschaft sparen wir unter anderem auf einen Vereinsbus.“ Wenn sich ein Sponsor fände, wäre das natürlich noch schöner – gesucht wird „ein Lieferwagen, der etwas aushält, zwei Paletten mit 1000 Kilo sollten schon reinpassen“. Vorerst aber läuft das tägliche Lebensmittelretten mit den Privatfahrzeugen.

Das Areal am Turnerweg 1 ist nicht nur Umschlagplatz, „sondern als Mitmach-Verein sind wir auch sozialer Treffpunkt“, sagt Spieler. Bei allem Anliefern und Abholen bleibt immer wieder Zeit für eine Tasse Tee und einen kurzen Ratsch, und über die digitalen Kommunikationskanäle ploppen bisweilen Bilder auf, was aus Errungenschaften geworden ist. Etwa Blumen, zu welk für den Verkauf im Laden: „Unsere Mitglieder päppeln die Sträußchen auf. ,Schaut, ich habe eine traurige Pflanze gerettet‘, heißt es dann zu einem verschickten Foto.“ Oder, auf der Facebook-Seite: „Mitten im Fasching retten wir schon die ersten Osterbrote! Verrückte Welt.“

Die Lebensmittelrettung ist buchstäblich das tägliche Brot, aber der Verein kämpft auch gegen Ressourcenverschwendung. Dafür gibt’s eine Tauschkiste sowie eine zweite WhatsApp-Gruppe: Wer braucht Babykleidung, wer möchte ein altes Fahrrad loswerden? Selbst Bettlaken, Handtücher und Zeitungspapier werden gesammelt: für Vereine wie die Tierhilfe Ottobrunn oder Igelstationen. Und regelmäßig unterstützt der gemeinnützige Verein aus Unterhaching einen anderen Verein, nämlich IGePS (Interessen Fairtretung Gesundheit, Pflege und Soziales) aus Kirchheim – dort kümmert man sich um Menschen in sozialer Not. Mit den Fuhren aus Unterhaching wird regelmäßig unter anderem die Obdachlosenhilfe an der Münchner Freiheit unterstützt.

Alles Erdenkliche tun für Lebensmittel- und Ressourcenrettung, „das hat mich total gepackt, auch zeitlich“: Für diese Aufgabe brach Spieler sogar ihr Lehramt-Studium (Spanisch/Französisch) ab, verdient ihr Geld lieber mit zwei Jobs in der Gastronomie. Und koordiniert ansonsten den Fluss der Wiederverwertung vor ihrem Haus. „Privatsphäre wird hier kleingeschrieben, es herrscht immer Mega-Trubel“, sagt sie und lacht: „Bei uns ist immer was los. Eine Arbeit als Lehrerin wäre mir vermutlich auf Dauer zu langweilig geworden.“

Der schwedische Online-Supermarkt „Motatos“, der seit 2014 ein Gegenmodell zum großen Wegwerfen entwickelt hat, kämpft engagiert gegen Lebensmittelverschwendung. Das Prinzip: Produkte, die entweder aus Überproduktion stammen oder Mängel wie Fehldrucke oder falsche Verpackungen aufweisen und normalerweise entsorgt würden, landen bei Motatos stark rabattiert im Online-Verkauf. Bundesweit hat Motatos auf diese Weise 2020 etwa 1200 Tonnen an Lebensmitteln gerettet (wir berichteten), 2021 waren es schon 7567 Tonnen, davon 1447 Tonnen n Bayern und gut 55 Tonnen allein im Landkreis München.

„Auf diesem Erfolg wollen wir 2022 aufbauen, denn angesichts der anfallenden Gesamtmenge von bundesweit 2,2 Millionen Tonnen Abfällen im Bereich der Lebensmittelherstellung bleibt weiterhin viel zu tun.“ Es gelte das Motto „jedes Gramm zählt“. Spitzenreiter im Landkreis München bei der Lebensmittelrettung übers Motatos-Portal war im vergangenen Jahr Unterhaching mit 5,82 Tonnen vor Gräfelfing (4,66), Haar (4,61), Unterschleißheim (4,06) und Ismaning (3,91). Am niedrigsten lag die Quote in Straßlach-Dingharting (0,12) sowie Taufkirchen und Grasbrunn (je 0,29).

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